Donnerstag, 14. Juli 2011

Ein Glas Milch für mein Milchgesicht.

Manchmal muss man einen neuen Anfang wagen - so geschehen mit diesem Blog. Natürlich nur im übertragenen Sinne. Dennoch habe ich nach eingehender Betrachtung beschlossen, dass es sicherlich von Vorteil sein kann, hin und wieder einige essentielle Gedanken oder Begebenheiten niederzuschreiben, ohne tatsächlich akribisch Buch über ein durchschnittliches Leben zu führen, sondern einfach, um mich ein bisschen zu zerstreuen und dabei gleichzeitig eine gewisse Anonymität zu wahren.

Ansonsten sollte ich vielleicht einige Dinge über mich vorwegnehmen: ich habe einen Hang zum obsessiven Sammeln von Lippenstiften (81 Stück mit steigender Tendenz), ich verehre "Lolita" von Vladimir Nabokov so sehr, dass ich, sobald ich es fertig gelesen habe, wieder von vorne beginnen muss, ich bin kontrolliert, aber völlig undiszipliniert, ich rauche zuviel, schenke in einer Diskothek Getränke aus, trage mehr Röcke als Hosen und schlage meine Träume in Deutungsbüchern nach, ohne der angebenen Bedeutung Glauben zu schenken.
Ich bin leicht aus der Fassung zu bringen, vermag es jedoch, meine Entrüstung für mich zu behalten.

Dinge, die meine Fassung ins Schwanken bringen: heute morgen musste ich zu einer unmenschlichen Uhrzeit zum Arzt, betrat das Wartezimmer und war sofort abgestoßen - ich verstehe, dass es pure Höflichkeit der bereits Wartenden sein soll, den Eintretenden zu grüßen, doch diese Begrüßung klingt in jedem Wartezimmer stets gleich gezwungen, man wird nicht angeschaut, außer einem kurzen Abschätzen, warum man wohl hier ist, ob es einem besser oder schlechter geht, als den Wartenden selbst; danach je nach vorherigem Ergebnis entweder Verachtung oder Erleichterung, worauf man sich verstohlen einen Sitzplatz sucht, der mindestens einen leeren Nebensitz einschließt. 

Ich blätterte also gelangweilt in zerlesenen Zeitschriften, sah mir eine stümperhafte Power-Point-Präsentation (ein zusätzlicher Ekelfaktor, wirklich. Eine Power-Point-Präsentation kann ganze Tage ruinieren!) über die Behandlungsmethoden der Praxis an, und wurde, nach nur viertelstündiger Verzögerung meines Termins in das Behandlungszimmer gerufen, wo ich weitere fünfzehn Minuten verbringen durfte.

Gibt es etwas Trostloseres als in Praxisräumen auf Behandlung zu warten? Man sieht umher, der Blick bleibt an nichts hängen - weiße Wände, gefältete Jalousien, Fachlektüre, ein schwarzer Computerbildschirm, weißer Schreibtisch, Nachdrucke berühmter Gemälde, die man schon zu oft gesehen hat. Monet ist in Arztpraxen äußerst beliebt.

Die Ärztin betrat letztlich mitsamt Arzthelferin das Zimmer, reichte mir nicht die Hand, hörte sich desinteressiert meine Beschwerden an, tat meine Bedenken als harmlos ab und während der allzu routinierten, kühlen Untersuchung ging sie dazu über, die Arzthelferin für die vergessene Bestellung irgendeiner Kleinigkeit in einem sanften, nachdrücklichen Tonfall zu tadeln. Diese betonte Süße in ihren giftigen Bemerkungen, die unterwürfige Haltung der blonden Arzthelferin nach vergeblichen Versuchen der Rechtfertigung, waren unglaublich widerlich - niemand hätte der Ärztin ungebührliches Verhalten vorwerfen können, aber sie hat ein deutliches Zeichen gesetzt, die Rolle der Überlegenen angenommen und ihre Assistentin mir gegenüber sichtlich gedemütigt. 

Als die Ärztin den Raum verlassen hatte, war die Stimmung verständlicherweise noch eisiger, denn die Arzthelferin hat in diesem Moment ihr Gesicht vor mir verloren, war fehlbar und obwohl ich ihr gerne gesagt hätte, dass ich ihr die vergessene Bestellung nicht übelnehme, schwieg ich und verabschiedete mich kleinlaut, worauf sie ein wenig unfreundlich reagierte. Die Peinlichkeit darüber, in aller Öffentlichkeit getadelt zu werden, war für sie vermutlich zu groß. Meine Dankbarbeit, keine Arzthelferin zu sein, hat mir immerhin im Auto noch einen kurzen Augenblick der Erleichterung und Zufriedenheit verschafft: Fenster geöffnet, Zigarette angezündet und mit lauter Musik nach Hause gefahren, um mir in aller Stumpfsinnigkeit die Fingernägel himbeerrot zu lackieren und mich an meiner Verantwortungslosigkeit zu erfreuen - manchmal braucht man kleine Rückschläge anderer, um sich eines banalen Glücks zu erinnern.